„(…) Da hätte ich gehen sollen, aber in mir stieg ein seltsames Gefühl auf, etwas wie eine Herausforderung ans Schicksal, ein Wunsch, es gleichsam zu ohrfeigen, ihm die Zunge herauszustrecken…“ Fjodor M. Dostojewski, Der Spieler
„Ich kann nicht mehr, ich stehe vor dem Abgrund. Ich habe schon alles durch, alle möglichen Drogen ausprobiert, aber das hier…das ist was anderes. Schlimmer. Ich verspiele nicht nur mein Leben sondern auch das meiner ganzen Familie, meiner beiden kleinen Kinder. Und spätestens morgen am Abend sitze ich wieder vor dem Automaten. Wie kann ein Mann so etwas tun? “ Herr D. kämpft mit den Tränen, vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen begraben. D. ist heute Abend das erste Mal in einer Gruppentherapie für Spielsüchtige. Die Gruppe bietet ein buntes, gemischtes Bild: junge Migranten, vorwiegend aus Ex-Yugoslawien und der Türkei, ältere Herren, Frauen. Zustimmendes und anteilnehmendes Nicken. Man kennt diesen gefährlichen Gefühlscocktail aus Schuld, Scham, Wut und Verzweiflung, man war selbst allzu oft an diesem Punkt. Die ersten Wortmeldungen. Trost und Verständnis. Es sei eine nicht heilbare, chronisch verlaufende Krankheit, aber gerade diese Tatsache sei tröstend, weil es einem den enormen Druck und die Schuldgefühle wegnimmt. Man sei dadurch besser in der Lage die ständigen Zwangsgedanken und das Verlangen anzunehmen, zu akzeptieren und anschließend versuchen durch alternative Bewältigungsstrategien mit ihnen umzugehen. Es sei eben auch eine Erkrankung die gut kontrollierbar ist. „Es wird nicht einfach, aber es wird besser.“
Alle Anwesenden teilen nicht nur ähnliche Erfahrungen sondern auch die gleiche Diagnose- Pathologisches Glücksspiel. Sie leiden an einer so genannten stoffungebundenen Suchtform, einer Verhaltenssucht. Davon gibt es einige, z.B. die Computerspiel-, Internet-oder Kaufsucht. Das pathologische Spielen wird momentan in dem in Europa geltenden Klassifikationssystem (im Gegensatz zu der neuen Version des amerikanischen Diagnosesystems DSM V) nicht als eine Suchterkrankung, sondern als Störung der Impulskontrolle diagnostiziert (F63.0). Dort findet sie sich also mit der pathologischer Brandstiftung und dem pathologischen Stehlen in einer diagnostischen „Restkategorie“ wieder- etwas was unter Fachleuten sehr lange kontrovers diskutiert wurde. Das wird sich ändern. Eine große Mehrheit ist sich auch hier darüber einig, dass es zwischen der Spielsucht und Drogenkonsum in Bezug auf Ausdruck, Ursache, Begleiterkrankungen, biologische Dysfunktion und Behandlungsmöglichkeiten große Parallelen gibt. Auch auf neurobiologischer Ebene laufen bei Spielsüchtigen ähnliche Prozesse ab wie bei substanzbezogenen Störungen. Bei Spielsüchtigen weist das so genannte Belohnungs- und Verstärkungssystem im Gehirn, das unter anderem durch den Botenstoff Dopamin gesteuert wird, ähnliche Veränderungen, wie sie auch im Gehirn von z.B. Alkoholsüchtigen zu finden sind.
Spielsucht ist dazu eine Verhaltenssucht, die zu den Suchterkrankungen mit dem höchsten Selbstmordrisiko zählt und deshalb besonders gefährlich ist. Auch in unserer Gruppe sitzen einige Teilnehmer die bereits Suizidversuche hinter sich hatten. Damals war es für sie der einzige Ausweg aus der Misere, sagen sie. Vor allem die schier unlösbaren finanziellen und familiären Probleme hätten sie erdrückt. Ganz oft kommen Angsterkrankungen, Depressionen und Alkoholabhängigkeit dazu.
Das kleine Glückspiel ist in Österreich ein heiß diskutiertes gesellschaftspolitisches Thema. Die Zahl pathologischer Glücksspieler, die sich in ambulanter oder stationärer Behandlung befinden, stieg in der Vergangenheit kontinuierlich an. Eine Trendwende ist nicht zu erwarten. Den höchsten Anteil der Spielsüchtigen weisen mit 47 % die Nutzer von Automaten in diversen Spielhallen auf. Gleich dahinter folgen Sportwetter (20 %), danach kommen klassische Casinospieler (17 %). In Österreich können zwischen 0,5 bis 1,0 % der spielenden Erwachsenen als vom Glücksspiel abhängig bezeichnet werden. Weitere drei bis vier Prozent gelten als gefährdet. Die Dunkelziffer ist vermutlich viel höher. Überdurchschnittlich oft trifft es ärmere Menschen, vor allem Arbeitslose. Die Daten deuten aber auch darauf hin, dass es vor allem junge, männliche Migranten sind die spielsüchtig werden. Die Ursachen sind sehr komplex und haben vor allem mit sozialen Problemen zu tun. Durchschnittlich schlechter gestellt und in Gegenden wohnhaft, in denen es besonders viele Möglichkeiten (Wettbüros, Spielhallen) und wenig Zugangsbeschränkungen gibt, gelten sie als eine Hochrisikogruppe.
Aber ab wann überschreitet man die Grenze zum pathologischen Spielen und vor allem warum?
Die Diagnosekriterien ähneln sehr denen von anderen stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen wie z.B. Alkohol. Die Sucht entwickelt sich langsam, es fängt meistens harmlos an. Das Wettbüro oder die Spielhalle sind zuerst oft ein sozialer Raum, man trifft sich dort, spielt nebenbei und macht die ersten positiven Erfahrungen. In unserer Therapiegruppe fällt oft der Spruch „ Wer Pech hat, gewinnt am Anfang: “In der sogenannten „Gewinnphase“ werden Gewinne als persönliche „Erfolgserlebnisse“ verbucht, unbewusst oder teilbewusst entwickeln sich immer größere Gewinn-Erwartungen. Gewinne werden überbewertet, als selbstverständlich betrachtet und oft in ihrer Höhe übertrieben dargestellt. Es werden zunehmend höhere Beträge gesetzt, um mehr zu gewinnen. Die Toleranz und somit auch die Risikobereitschaft wachsen. Gewinne bleiben zumindest am Anfang die Hauptmotivation, später verselbstständigt sich das Spiel. Verluste werden auf äußere, nicht beeinflussbare Hindernisse & unglückliche Umstände geschoben. Das Glücksspiel beherrscht bald das Leben der Betroffenen und wird nach und nach zum zentralen Inhalt – alle anderen Lebensinteressen werden zunehmend dem Glücksspiel untergeordnet. Das Belohnungssystem reagiert kaum noch oder überhaupt nicht mehr auf alternative Reize, die bei Gesunden ein Verlangen auslösen. Sie lösen nicht annähernd einen so starken Verhaltensanreiz aus. Es kommt zu einem offensichtlichen Kontrollverlust – die Kontrolle über das Spielverhalten geht verloren und die Vorsätze, nur einen bestimmten Betrag zu verspielen, verlieren komplett ihre Wirksamkeit. Man versucht die Verluste zu bagatellisieren, zu verheimlichen, oder was noch verheerender ist – sie zurückzugewinnen. Ganze Existenzen werden dabei buchstäblich verzockt, dazu kommen die sozialen Folgen: Trennung, Scheidung, Zerrüttung persönlicher Verhältnisse. Man gerät in einen Teufelskreis aus Wut, Depression, Schuld- und Schamgefühlen. Ein dauerhafter Verzicht auf das Spiel wird unmöglich, die Entzugssymptome stellen sich in Form von massiver innerer Unruhe, Anspannung und Gereiztheit ein. Langfristig kommen Stimmungsschwankungen, Konzentration-und Schlafstörungen dazu. Gerade in Belastungssituationen ist der Spieldrang besonders groß und meistens begleitet von massiven Zwangsgedanken. Man bekommt einen andauernden „Tunnelblick“.
Bei der Entwicklung einer Spielsucht spielen viele bio-psycho-soziale Faktoren eine Rolle. Als häufige Prädispositionsfaktoren bei Spielsüchtigen gelten vermindertes Selbstwertgefühl, Beziehungsstörungen und eine Erregungsdysregulation. Der Spieler versucht oft durch das Spiel zu „flüchten“, negative Gefühle zu vermeiden, Spannungen abzubauen und gleichzeitig immer wieder einen besonders intensiven Erregungszustand zu erleben. Auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Sensationslust, Risikobereitschaft und Impulsivität werden als Risikofaktoren diskutiert, obwohl es wichtig ist zu betonen dass es eine “typische” Spielerpersönlichkeit genauso wenig gibt wie die des Alkohol-oder Drogenabhängigen.
In der schleichenden Entwicklung einer Spielsucht spielen vor allem zwei Faktoren eine wichtige Rolle. Sie treffen aufeinander und „ergänzen“ sich sozusagen: die Wahrnehmungsverzerrungen der Spieler und sogenannte strukturelle Merkmale von Glücksspielen. Diese Merkmale befriedigen vor allem die emotionalen Bedürfnisse und bestimmten das hohe Stimulations-und Suchtpotential. Das haben vor allem Spiele mit hoher Ereignisfrequenz bzw. rascher Spielabfolge wie Automaten und Roulette (man vergleiche dabei die Lottoziehung mit nur 1-2 Mal pro Woche). Die kurze Zeitspanne zwischen Einsatz und Auszahlung (Auszahlungsintervall) steht ebenfalls für höheres Suchtpotential. Die Variabilität der Einsätze fordert das Gefühl, man könne durch höhere Einsätze Verluste wettmachen. Ton, Licht-und Farbeffekte, vor allem in Wettbüros und abgedunkelten Spielhallen, vermitteln das Gefühl von Vergnügen und Stimulation. Beinahe-Gewinne verlängern das Glücksspielverhalten, sie aktivieren bei Spielsüchtigen die gleichen Hirnregionen wie ein richtiger Gewinn. Deshalb sind Spielautomaten in der Regel so programmiert, dass Beinahetreffer häufiger auftreten als dies unter Zufallsbedingungen zu erwarten wäre. Die Glückspiele gaukeln einem auch den eigenen Kompetenzanteil vor – z.B. wird durch die Start-Taste am Automaten oder Systemspielen die Erwartung gefördert, das Spielergebnis sei in irgendeiner Weise beeinflussbar. Dadurch wird das so genannte „magische Denken“ ins Spiel gebracht – ein Bündel an Wahrnehmungsverzerrungen.
In bestimmten Grenzen gehört magisches Denken für alle Menschen zum Alltag: Wir unterliegen z.B. alle mehr oder weniger der sogenannten „Clustering Illusion”, der Tendenz Muster auch dort zu erkennen wo keine sind. Wir haben auch alle ein gewisses Maß an Aberglauben. Ein vierblättriges Kleeblatt von Silvester soll uns z.B. Glück bringen. Problematisch wird es aber, wenn es im Glücksspiel zum Weiterspielen anreizt. Je mehr eine Suchterkrankung fortgeschritten und je größer die Not ist, desto größer wird die Rolle sein die das magische Denken spielt. Es wird zB. immer ein spezielles Gerät gewählt, das einem besonders liegt und gewinnversprechend ist. Obwohl die Glücksspiele auf dem Zufallsprinzip basieren und sich der Kontrolle entziehen, erzeugt das magische Denken die Illusion der Fähigkeit, das Spielergebnis irgendwie beeinflussen oder systematisch vorhersagen zu können (Illusion der Kontrolle). Auf einer fehlerhaften Interpretation von Zufallsereignissen beruht auch die Annahme, zukünftige Spielergebnisse wären abhängig von den vorhergegangenen Ereignissen, während sie in Wirklichkeit völlig unabhängig sind. Ein zufälliges Ergebnis wird also nicht wahrscheinlicher, nur weil es gerade eingetreten ist. Ein zufälliges Ereignis wird auch nicht wahrscheinlicher, nur weil es längere Zeit nicht eingetreten ist. Spielsüchtige unterliegen auch oft einem „umgekehrten Spielerfehlschluss“: Da ein unwahrscheinliches Ergebnis vorliegt nimmt man an, es habe dazu einer Reihe von vorhergegangenen Ereignissen bedurft, was genauso wenig zutrifft. Es kommt zu einer „Gefangennahme“: aufgrund bereits erfolgter „Investitionen“ everstärkt sich die Bindung an die gewählte Entscheidungsstrategie, obwohl diese bereits gescheitert ist.
Diese Art der verzerrten Informationsverarbeitung hat die Funktion der Selbstrechtfertigung: man kann dadurch wider besseren Wissen das Glücksspielverhalten fortsetzen. Eigentlicher Spielantrieb, die Stimmung auszugleichen, gerät so ins Unbewusste, der Spieler hat aber eine Erklärung für sein Verhalten. Zu diesen kognitiven Verzerrungen kommen noch viele situative und affektive Faktoren dazu – eine durch Alkohol veränderte Stimmungslage z.B. reduziert zusätzlich die Fähigkeit der Selbstkontrolle.
Die Behandlung erfolgt entweder in einem stationären oder ambulanten Setting. Neben einer Psychotherapie im Einzel- und Gruppensetting, werden in schwierigeren Fällen auch Anti-Craving Medikamente (so genannte Opiod-Rezeptor Antagonisten, die vor allem bei Alkohol- und Drogensucht eingesetzt werden) und Antidepressiva verschrieben. Das ist vor allem von der Schwere der Sucht und von vorhandenen Begleiterkrankungen abhängig. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Spielsucht eine hochkomplexe psychische Störung ist und dadurch multimodale und interdisziplinäre Behandlungsangebote notwendig sind.
Zusätzlich hervorzuheben ist auch die Rolle bzw. die Einstellung der Gesellschaft und der Gesetzgebung, nicht nur bei dem kleinen Glücksspiel, sondern auch bei der Trennlinie zwischen Glücks-und Geschicklichkeitsspielen (man nehme dabei als Beispiel die Sportwetten, die in Österreich – anders als in übrigen europäischen Staaten – als Geschicklichkeitsspiele eingestuft werden, obwohl es mehrere Studien bereits klar und deutlich widerlegt haben).
Literatur :
Füchtenschnieder I & Petry J Game Over, Ratgeber für Glücksspielsüchtige und Angehörige Lambertus Verlag: Freiburg.2004
Meyer G & Bachmann M. Spielsucht– Ursachen und Therapie. 2. Auflage. Springer: Berlin. 2005
Links :