“An unseren Gedanken leiden wir mehr als an den Tatsachen.” Lucius Annaeus Seneca
Depression ist eine sehr komplexe psychische Störung, die aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden ist. Klinische Psychologen und Verhaltenstherapeuten gehen heute von einem integrierten bio-psycho-sozialen Entstehungsmodell aus, das das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren auf mehreren Ebenen vertritt. Die Akzente können bei einzelnen Störungsarten und betroffenen Personen unterschiedlich gesetzt sein.
Ein wichtiger Faktor jedoch, der sich ganz oft finden lässt und der nicht nur zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Depression, sondern auch vieler andere psychischer Störungen beiträgt, sind Störungen der Informationsverarbeitung, sogenannte „Denkfehler“. Diese Denkfehler sind ein wichtiger (aber nicht der einzige) Bestandteil der Depressionstheorie von Dr. Aaron T. Beck, einem der Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie.
Als vereinfachte Strategien zur schnellen Orientierung in komplexen Situationen sind Denkfehler bei allen Menschen zu finden. Sie sind also Bewältigungsstrategien, mit denen wir gelernt haben unserer Umwelt und bestimmten Situationen zu begegnen. Viele von uns hinterfragen sie nicht.
Warum und vor allem wann werden sie also zum Problem? Eine wichtige Botschaft der Kognitiven Verhaltenstherapie ist, dass unsere Gedanken, Einstellungen und Grundüberzeugungen sich stark auf die Interpretationen unserer Umwelt und unserer Gefühlslage auswirken. Zum Problem werden diese Denkfehler wenn sie „vernebeln“, die Realität verzerren und dazu beitragen, negative Ansichten über uns selbst, die Umwelt und die Zukunft zu entwickeln. Erfahrungen werden durch eine bestimmte „Brille“ gesehen und nicht „richtig“ bewertet. Dysfunktionale Denkstile sind sehr oft bei depressiven Menschen zu finden.
Die Denkfehler gehen nach Beck auf sogenannte kognitive„Schemata“ zurück, übergeneralisierende, stabile Verarbeitungsmuster, die aus vergangenen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend entstanden sind. Diese Schemata veranlassen Menschen zu bestimmten Fehlschlüssen und erzeugen Affekte, woraus wiederrum negative Erwartungshaltungen mit entsprechenden Wahrnehmungen resultieren. Dadurch werden die Schemata bestätigt. Es handelt sich also um einen Teufelskreis, der unserer bewussten Wahrnehmung oft nicht zugänglich ist.
Oft begehen wir diese Denkfehler in Form sogenannter automatischer Gedanken. Das sind eigentlich Bilder, die übersetzt werden, und uns durch den Kopf huschen. Es handelt sich um einzelne, situationsspezifische Gedanken, die nicht das Resultat vom zielgerichteten Denken sind. Viele von ihnen sind sogenannte „hot thoughts“, mit sehr enger Verbindung zur Emotion.
Forscher haben die häufigsten Denkstile und Denkfehler identifiziert, die zu unangemessenen Gefühls- und Verhaltenskonsequenzen führen. Hier sind einige Beispiele dazu, die sich oft überschneiden und meistens gemeinsam „im Paket“ auftauchen (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es gibt mittlerweile viele sowohl übergeordnete Konzepte und Denkstile, als auch differenzierte Untergruppen):
Dichotomes Denken (Schwarz-Weiß Denken): Dabei werden alle Erfahrungen in eine von zwei sich gegenseitig ausschließenden Kategorien (gut/schlecht zB.) eingeordnet und extreme Urteile gebildet („Ich bin ein absolut unfähiger Idiot und mir wird nie etwas gelingen vs. Ich bin in jeder Hinsicht hochbegabtes Genie“, „Eine Leistung ist entweder gut oder schlecht“ etc. ; Situationen und Menschen werden entweder idealisiert oder extrem abgewertet. Schlüsselworte sind: richtig, falsch, alles, nichts, total. “Symptomgewinn” der Menschen mit diesem Denkmuster besteht in vermeintlicher Entscheidungs- und Orientierungssicherheit (“Ich kenne mich immer aus und kann alles irgendwo einordnen”), sie ersparen sich auch dadurch flexible, differenzierte (und dadurch oft mühsame) Einzelbetrachtungen.
Übergeneralisierung : Menschen die diese Denkmuster anwenden, nehmen aufgrund des einzelnen, isolierten Vorfalls oder einiger weniger Beobachtungen eine meist ungerechtfertigte Verallgemeinerung vor und schließen von einem Teilaspekt auf das große Ganze. Dieses Konzept wird dann auf ähnliche oder unähnliche Situationen angewendet („ Ich habe diese Prüfung nicht geschafft, das ganze Studienjahr ist nun vorbei“). Schlüsselworte sind: immer, grundsätzlich, ausschließlich, hundertprozentig. Hierbei wird vor allem bei negativen Übergeneralisierungen (teils unbewusst) vermieden, sich mit Befürchtetem, Unbequemem oder Anstrengendem zu konfrontieren und letztendlich Eigenverantwortung zu übernehmen.
Etikettierung: Eine Spezialform des Generalisierens – hierbei handelt es sich um Pauschalurteile, über sich selbst, aber auch über andere Menschen. Meistens wird aus einer oder einigen wenigen Unzulänglichkeiten die eigene, negative Gesamtidentität erschaffen („Aufgrund meines vermehrten Schwitzens bin ich ekelhaft und das Letzte“). Schlüsselworte sind: minderwertig, nutzlos, schlecht, Versager.
Katastrophendenken („Wahrsagen“): Dieses Denkmuster zeichnet sich durch pessimistische Grundtendenz, negative Zukunftserwartungen und (siehe oben) generalisierte Übertreibung aus. Alles wird stets katastrophal gewertet („Ich habe Bauchschmerzen, bestimmt habe ich einen Darmtumor“). Schlüsselworte sind entsetzlich, furchtbar, unerträglich, nicht auszuhalten etc. Durch die unterstellte Ausweglosigkeit können z.B. befürchtete Fehler und allgemein Anstrengung vermieden werden.
Versicherungsdenken: Dieses Denkmuster ähnelt wegen dem Pessimismus und der negativen Prognose dem Katastrophendenken sehr, jedoch besteht dabei insgeheim die Hoffnung, die Vorhersage möge nicht eintreffen („Wer das Schlechteste annimmt, kann nur positiv überrascht werden“). Es ist ein Denkmuster, das vor allem der Vermeidung dient, denn die Erwartungsangst wird minimiert und man schützt sich vor Enttäuschungen („Wer keine Ziele hat und sie nicht verfolgt, kann keine Fehler machen, ist dadurch nicht überprüfbar, kann nicht scheitern bzw. versagen“)
Absolutes Fordern und Soll/Muss Denken: Hier sind inhaltlich selbstgesetzte allgemein und uneingeschränkt gültige, anerkannte Normen zu finden, die entweder gesucht oder selbst gepredigt werden. Das hat viel mit dem Konzept der mangelnden Frustrationstoleranz zu tun und als emotionale Reaktion oft Wut, Ärger, Frust und/oder Empörung (da die Ansprüche klarerweise nicht erfüllt werden können). Menschen, die so denken, glauben etwas unbedingt haben oder fördern zu müssen, oder glauben zu wissen, dass etwas so oder anders sein muss oder sein sollte. („Weil das so ist/weil man das so macht/ weil sich alle so verhalten sollten!“). Dieses Denkmuster bietet Sicherheit, das Richtige zu tun und „gut“ zu sein, die Verantwortlichkeit wird damit nach außen verlagert und (meist unbewusst) wird auch die Angst vor Fehlern, Kritik und/oder Ablehnung reduziert.
Gerechtigkeitsdenken und Fairness-Erwartung: Es handelt sich um eine Untergruppe des Soll/Muss Denkens, denn auch hier finden wir inhaltlich klare und rigide Vorstellungen darüber was Gerechtigkeit ausmacht. Dabei stehen meistens Zustände im Vordergrund, die aus eigener Sicht unfair und für einen selber im negativen Sinne ungleich sind („Das Leben hat fair und absolut gerecht zu sein“). Hierbei spielt, wie so oft, Vermeidung eine Rolle, denn wer Gerechtigkeit von anderen oder dem Schicksal fordert, braucht nicht selbst aktiv zu werden, mit anderen zu konkurrieren und Ziele anzustreben.
Willkürliche Schlussfolgerungen: Hierbei werden Schlüsse gezogen, die ohne Realitätsbezug sind und für die es keine Beweise gibt („Sie stehen da drüben, schauen mich nicht an und tuscheln, bestimmt reden sie über mich.“)
Personalisieren: Neigung, äußere Ereignisse auf sich zu beziehen, auch dann wenn keinerlei Grundlage besteht bzw. sie mit einem nichts zu tun haben („Dieser Typ hat den Einkaufswagen derart auf die Seite gestossen- mir war klar, er denkt ich bin ein Idiot“).
Gefühlsdenken und emotionale Argumentation: Wir nehmen unsere Gefühle als objektive Tatsachen und Beweise, dass eine bestimmte Sichtweise wahr sein muss („Das war ein ganz nettes Gespräch mit ihr, aber mein Bauchgefühl sagt mir dass sie mich nicht ausstehen kann“).
Disqualifizierung positiver Erfahrungen und Fixierung auf die negativen Aspekte/ Über- und Untertreibung : Menschen schreiben sich Misserfolge zu und beziehen sie ausschließlich auf eigene mangelnde Fähigkeiten, erleben sie als überdauernd („Ich bin halt ungeschickt, das habe ich geerbt“) und übertragen sie auf alle möglichen Aufgabenstellungen in der Zukunft, während sie positive Erlebnisse und Erfahrungen dem einzelnen Zufall und äußeren Umständen zuschreiben („ich habe diese Prüfung nur aufgrund leichter Fragen und dem Glück geschafft, und weil ich mich nur in diesem Fach wirklich auskenne“)
Unsere Denkfehler bleiben nicht ohne Folgen. Sie führen dazu, dass wir immer wieder in emotionale Turbulenzen geraten und psychische Probleme bekommen. Wenn man die Denkfehler verstanden hat, fällt es einem auch viel leichter die schädlichen Gedanken (und vor allem die Situationen die sie auslösen) aufzuspüren, sie auf ihre Angemessenheit zu überprüfen und sie immer wieder zu korrigieren.