„Maskierte“ männliche Depression – unterschätzt, unerkannt und unbehandelt„Maskierte“ männliche Depression – unterschätzt, unerkannt und unbehandelt

„Jetzt mal ehrlich- was soll das Ganze bringen? Ich bin weder verrückt noch bilde ich mir irgendetwas ein, ich habe reale Probleme!“ Herr S. sitzt in verkrampfter Körperhaltung, mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn bei seinem Erstgespräch in (m)einer psychotherapeutischen Praxis. Stille. Er lässt den Blick unsicher durch den Raum schweifen. Herr S. leidet seit Monaten an massiven Schlafstörungen, ist gereizt, aufbrausend und bekommt wie aus dem Nichts Wutanfälle. Seit dem Verlust des Arbeitsplatzes liegt er mit seiner Frau ständig im Streit, zieht sich zurück oder geht öfters weg und kommt betrunken nach Hause. Das sind die seltenen Nächte wo er gut ein-und durchschlafen kann. Die Nackenschmerzen seien ebenfalls schlimmer geworden, er klagt über Beklemmungsgefühle in der Brust und Atembeschwerden. Trotz alledem hält er eisern an seinem Krafttraining fest. Sein Hausarzt hat Herr S., nachdem er keine medizinische Ursache seiner Probleme feststellen konnte, einer Psychotherapie zugewiesen. Trotzdem hat es Monate gedauert bis er den Weg dorthin gefunden hat. Herr S. leidet an einer Depression.

Die Weltgesundheitsorganisation warnt schon lange vor der neuen Volkskrankheit. In Österreich leiden geschätzte 800.000 Menschen an depressiven Erkrankungen, in Deutschland sind es vier Millionen. Die Dunkelziffer ist vermutlich viel höher.

Das vorherrschende Bild, Frauen seien häufiger anfällig für psychische Störungen ist durch Studien mittlerweile mehrfach wiederlegt worden. Ein Grund für diese Fehlannahme waren unter anderem die bisher üblichen, geschlechtsübergreifenden Diagnosekriterien einer Depression –nach diesen Kriterien erkranken laut Statistiken etwa doppelt so viele Frauen (25%) an einer Depression als Männer (12%). Wenn man sich aber einen anderen Hauptindikator der psychischen Gesundheit anschaut, nämlich die bei den Männern um das Dreifache erhöhte Suizidrate, wird es schnell klar-hier stimmt was nicht! Die männliche Suizidrate steigt mit dem Alter noch drastisch an. Ein entscheidender Grund für die dermaßen hohe Suizidrate bei Männern ist der, dass sie nur selten professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und dadurch überdurchschnittlich oft einen Punkt erreichen, an dem sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Sie sehen es als einzige Möglichkeit, die Situation zu beherrschen. Männer neigen bei der Ausführung auch eher zu aggressiveren Versuchen als Frauen, wählen überwiegend “härtere” Methoden und sind dadurch “erfolgreicher”.

Warum haben aber Männer ein so großes Problem damit, sich als (psychisch) krank zu sehen? Und warum haben Spezialisten wiederum ein so großes Problem diese Tatsache im Rahmen ihrer Diagnostik und Behandlung zu berücksichtigen? Was verzerrt also diese Statistiken dermaßen?

Dazu sollten wir uns zuerst fragen wie nun „typische“ Symptome einer Depression ausschauen:

Es sind vor allem tiefe Niedergeschlagenheit, zunehmender Interessensverlust an Hobbys oder Aktivitäten und Antriebslosigkeit. Ständige innere Unruhe kommt oft dazu, obwohl Erkrankte nach außen hin wie erstarrt wirken. Sie kommen sich vor wie ein Fahrzeug, bei dem gleichzeitig die Handbremse angezogen und das Gaspedal durchgedrückt wird. Regeneration findet kaum oder nicht mehr statt.

Es folgt ein Verlust an Selbstvertrauen und eine massive Verschlechterung des Selbstwertgefühls. Die Konzentrations-und Entscheidungsfähigkeit sowie das Gedächtnis können durch ständiges Grübeln und negative Gedanken eingeschränkt sein.

Menschen mit Depressionen leiden oft unter starken und objektiv nicht nachzuvollziehenden Schuldgefühlen sowie Gefühlen der Wertlosigkeit und Unzulänglichkeit. Sie entwickeln mit der Zeit eine verzerrt-negative Sicht und Denkweise in Bezug auf sich selbst, ihre Umwelt, ihre Zukunft und Vergangenheit aus. Eine Depression kann sich zusätzlich auch in vielfältigen körperlichen Beschwerden ausdrücken (Schmerzen werden z.B. intensiver und quälender empfunden), der Körper leidet für die Seele.

Hier kommen die männliche Sozialisation und sozial vermittelte Geschlechterrollen ins Spiel, die hauptverantwortlich für ein starres, stereotypes Männlichkeitsbild sind. Dieses Männerbild definiert sich bewusst oder unbewusst über die Unterdrückung, Abwehr und Überregulierung von Gefühlen, Abwertung und Geringschätzung von typisch „weiblichen“ Verhaltensweisen und Konkurrenzdenken gegenüber anderen Männern. Die Eckpfeiler: keinesfalls Schwäche zulassen, Überlegenheit, Dominanz, Leistungsorientierung. Dieses Männlichkeitsbild fordert von dem Mann auch das Hineinwachsen in die Rolle des Beschützers und des Alleinversorgers seiner Familie. Der Druck diese Erwartungen aus ganz verschiedenen Gründen (vermehrte Arbeitslosigkeit oder Arbeit ohne Perspektive, Bildungsferne, schlechte Chancen am Arbeitsmarkt, Geldprobleme) nicht mehr erfüllen zu können, aber eben erfüllen zu müssen, ist ein zusätzlicher Risikofaktor. Berufliche Veränderungen, Umstrukturierungen oder sogar Verlust des Arbeitsplatzes  rütteln am Selbstbild und begünstigen Depressionen.

Es liegt also sehr nahe, dass betroffene Männer vor allem eines versuchen: die Erkrankung zu verdrängen und sich möglichst entgegengesetzt zu verhalten. Die oben genannten Symptome, die übrigens als Grundbeschwerden bei beiden Geschlechtern gleich häufig vorkommen, werden durch ein typisch „männliches“ Stressverarbeitungsverhalten abgewehrt. Das sind vor allem erhöhte Aggressivität und Hyperaktivität. Depressive Männer sind zornig und oft auch feindselig. Sie betreiben Selbstmedikation und konsumieren in diesen Phasen überdurchschnittlich oft Suchtmittel (Alkohol, Drogen, Medikamente). Sie helfen kurzfristig und durchaus effektiv die unerwünschten Emotionen zu regulieren, aufzulockern und innere Spannungen abzubauen. Suchterkrankungen (vor allem Alkoholabhängigkeit) oder Verhaltenssüchte (pathologisches Glücksspiel, Internetsucht), gehen oft mit Depressionen einher.

Die Traurigkeit wird vor allem durch eine gereizte Stimmung überdeckt, die von Gefühlen von Wut, Ärger und Unbehagen gekennzeichnet ist. Die ständige Gereiztheit ist auch hauptverantwortlich dafür, dass depressive Männer oft ihre Impulse nur schwer kontrollieren können. Sie brausen sehr schnell auf, sind vorwurfsvoll und nachtragend.

Sie treiben oft übermäßig viel Sport um die Anspannung zu lindern und stürzen sich im Rahmen der Vermeidung vermehrt in die Arbeit, immer riskantere Abenteuer, neue Beziehungen, oder diverse Onlineaktivitäten. Körperliche Symptome wie massive Schlafstörungen, Erschöpfung, Herzrasen, Magen-Darm Beschwerden, erhöhte Anfälligkeit für Infekte und Schmerzen kommen dazu. Depressionen können auch zu einem Mangel an sexuellem Verlangen und als dessen Folge oder auch direkt zu Erektionsproblemen führen. Diese wiederum können sich verselbstständigen und eine weitere psychische Belastung sein: Ängste und Erwartungshaltung, im Bett zu versagen, und depressive Stimmungen schaukeln sich gegenseitig hoch.

Trotz all dieser Symptomatik haben es Männer schwer sich die Krankheit zu „erlauben“. Sie führen es häufig auf akuten Stress und berufliche Belastungen zurück. Es fällt ihnen viel leichter über Erschöpfung oder Burn-Out zu sprechen, diese habe man sich ja schließlich “erarbeitet”. 

Meine Erfahrung in der Praxis hat die Berichte vieler Ärzte und niedergelassener Psychotherapeuten bestätigt: vor allem am Anfang ist es schwer die Zeichen richtig zu deuten.

Die Mehrheit der depressiven Männer kommt, wenn überhaupt dann oft sehr spät und fremdmotiviert zu einer psychotherapeutischen Behandlung. Das geschieht in erster Linie durch mehrfache ärztliche Zuweisungen oder auf Drängen der Familie. Wenn hauptsächlich körperliche Beschwerden wie Erschöpfung und Schlaflosigkeit, oder ein so genanntes „Burnout“-Gefühl beginnen gravierende Auswirkungen auf den Lebensalltag zu haben oder Betroffene die gesundheitlichen Spätfolgen von vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum verspüren, sind sie erst bereit etwas zu tun. Viele haben durch ihre Gereiztheit und Aggressionen auch massive und lange andauernde Konflikte in ihrem familiären und sozialen Umfeld.

In der Regel gilt, dass Depressionen umso langwieriger behandelt werden müssen, je ausgeprägter sie sind und je länger sie bereits bestehen. Männer tun sich allerdings schwer mit klassischen Therapiesettings, sowohl in der Einzel-als auch in der Gruppentherapie (vor allem in themenoffenen Therapiegruppen). Aus bereits erwähnten Gründen fällt es ihnen oft schwer sich selbst zum Thema zu machen, den Zugang zu ihren Gefühlen zu finden (oder sie überhaupt benennen zu können) oder sich die Probleme anderer anzuhören. Da braucht es nicht nur fachliches Wissen um geschlechtsspezifische Zugänge sondern viel Zeit, Unterstützung und Einfühlungsvermögen, um vor allem gegen frühe (und leider häufige) Behandlungsabbrüche präventiv zu wirken. Depressionen sind aber im Allgemeinen gut behandelbar, sowohl in einem ambulanten als auch stationären Setting. Bei leichteren bis mittelgradig ausgeprägten Formen reicht eine Psychotherapie aus, ansonsten hat sich eine Kombinationstherapie aus Medikamenten und Psychotherapie als sehr effektiv erwiesen. Ergänzend dazu haben sich diverse Entspannungsmethoden (wie zB. Muskelentspannung nach Jacobson) und leichtes Ausdauertraining ebenfalls als hilfreich erwiesen.

Bis dato existieren leider keine evaluierten geschlechtsspezifischen Therapiekonzepte, was vor allem in der Praxis für viele Probleme sorgt und ein spannendes Forschungsfeld für die Zukunft sein könnte.

Folgende Checkliste kann Männern beim Aufspüren einer möglichen Depression helfen:

  • Ich rege mich über Kleinigkeiten auf, die mich früher kalt gelassen hätten und verliere schnell die Beherrschung
  • Ich trinke regelmäßig Alkohol, um mich zu entspannen
  • Ich betreibe exzessiv Sport
  • Mir rutscht schon mal die Hand aus
  • Ich reagiere auf meine Umwelt aggressiv und habe Wutanfälle
  • Ich fühle mich ausgebrannt
  • Ich leide unter Schlafstörungen, kann kaum ein- oder durchschlafen
  • Ich leide an Schmerzen, die auf keine körperliche Erkrankung zurückzuführen sind oder dieser nicht entsprechen
  • Manchmal erkenne ich mich selbst kaum wieder
  • Ich habe Selbstmordphantasien
  • Ich werde von einer unerklärlichen inneren Unruhe geplagt
  • Ich bin unfähig, einfache Entscheidungen zu treffen

Links:

Beratungsstellen für Männer in Wien:

Männergesundheitszentrum MEN

Männerberatung Wien

 Quellen :

Männergesundheitsbericht 2013

Siegfried Kasper: Male Depression; Feature Article, Newsletter International Society of Men`s Health 10/2003.

The Experience of Symptoms of Depression in Men vs Women. Analysis of the National Comorbidity Survey Replication. Jama Psychiatry

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