“Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge.” – Epiktet, Handbuch der Moral (5)
Herr T. kam in meine Praxis auf die Zuweisung von seinem mittlerweile vierten Internisten. Er hatte ihn wegen seinen Beschwerden und in der Hoffnung, eine etwas „passendere“ zweite Meinung zu bekommen, konsultiert. Grund dafür war eine schwer einzuordnende, anfallsartige Angst mit vielfältigen Begleiterscheinungen. Herr T. hatte buchstäblich Angst zu sterben und keiner nahm ihn ernst. Der unbeholfen ausgesprochene Vorschlag, er möge mit einem Psychologen seiner Wahl sprechen klang in seinen Ohren wie eine offenkundige Beleidigung und gleichzeitige Abwertung seiner Beschwerden. Wie konnten die Ärzte nur so unfähig sein?!
Angefangen hat es während eines Heimatsurlaubs, auf einem ländlichen Autobahnabschnitt. Es war ein plötzlicher Schweißausbruch, der ihn stutzig machte, begleitet von einer seltsamen Benommenheit. Herr T. fuhr nun langsamer, überlegte wann er das letzte Mal getrunken oder etwas gegessen habe. Je mehr er darüber nachdachte und sich beobachtete desto schneller schlug sein Herz, und er schwitzte noch stärker. Sein Mund wurde nun ganz trocken und er atmete flach, versuchte erfolglos nach Luft zu schnappen und tiefer einzuatmen. Er verspürte Brustschmerzen, und plötzlich war sie da- eine massive und überflutende Angst zu sterben, einen Herzinfarkt zu erleiden. Herr T. entschloss sich sofort anzuhalten. Seine Frau, die auf dem Rücksitz nichts davon mitbekommen hatte, bat er die Rettung anzurufen. Da diese aus einer benachbarten Stadt anrücken musste verging eine gewisse Zeit, für Herr T. eine gefühlte Ewigkeit. Als der Notarzt dann wirklich da war, war die Angst wie weggefegt. Herr T. war aber noch sehr mitgenommen, also legten ihn die Rettungssanitäter auf eine Bahre und fuhren in die Klinik. Die Untersuchungen brachten kein eindeutiges Ergebnis, Herr T. bekam eine Infusion und wurde entlassen.
Zu Hause angekommen, ging es Herr T. einige Tage lang gut, übrig blieb ein mulmiges Gefühl beim Autofahren. Und dann passierte es wieder, diesmal auf dem Weg ins Büro -der gleiche Ablauf, die gleiche, unbändige Angst. Herr T wurde erneut ausführlich untersucht- ohne Ergebnis. Er ärgerte sich maßlos über die offensichtliche Inkompetenz der Ärzte und suchte einen stadtbekannten Internisten auf. Bald darauf holte er sich eine zweite Meinung. Und eine dritte. Angstattacken häuften sich, bald war Herr T. nicht mehr in der Lage alleine Auto zu fahren, in der Arbeit und auf dem Weg dorthin fühlte er sich unwohl und zog sich immer mehr zurück. Seine Frau berichtete dass Herr T. in dieser Zeit auch vermehrt Alkohol konsumierte. Unzählige EKGs und Ultraschalluntersuchungen später saß Herr T. in einer psychotherapeutischen Praxis und tat vor allem Eines- sich wundern über die genaue Kenntnis der Symptome die sein Therapeut an den Tag legte. Über die vielen Informationen die er bekam und die vielfältigen Bewältigungsmöglichkeiten, die einem bereit stünden. Herr T entschied sich trotz seiner Skepsis dem Ganzen eine Chance zu geben.
Die bislang größte europaweite Studie zu psychischen und neurologischen Erkrankungen bestätigt es: 38 % aller Europäer, insgesamt 165 Millionen Menschen, leiden pro Jahr an einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung. Mit Abstand führend sind dabei die Angststörungen, an denen in Europa etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung erkranken. Man neigt sogar dazu von einem „Zeitalter der Angst“ und einer „Angstgesellschaft“ zu sprechen.
Eine wichtige (Unter)Gruppe sind Störungen, bei denen die beschriebenen Panikattacken und panikähnliche Symptome im Vordergrund stehen, die sogenannte Panikstörung, oft auch „Herzneurose“ genannt. Diese Störung wird gleichzeitig auch am häufigsten behandelt. Sehr viele Menschen erleben in ihrem Leben einzelne Panikattacken. Von einer entwickelten Panikstörung spricht man aber nur dann, wenn mehrere Panikattacken im Monat (mindestens vier) auftreten. Das besondere Merkmal der Panikstörung und gleichzeitig ein Verhängnis: aufgrund der häufigen Attacken und der entwickelten Hypersensibilität für oben beschriebene körperliche Vorgänge entwickeln betroffene Menschen oft eine gewisse Erwartungsangst, eine »Angst vor der Angst«, die zu deutlichen Beeinträchtigungen im täglichen Leben führt. Sie bezieht sich vor allem auf die empfundene Ohnmacht und die Hilfslosigkeit, in entscheidenden Momenten keine Hilfe zu bekommen, sowie auf den drohenden Kontrollverlust (Angst „verrückt“ zu werden). Eine Panikstörung kommt sehr oft in einem „Paket“ mit der sogenannten Agoraphobie, der Angst vor öffentlichen Räumen, die das Alleinsein oder den Aufenthalt in großen Menschenansammlungen betrifft.
Was hat es nun mit der Angst auf sich? Die Angst hat in unserer Gesellschaft keinen allzu guten Ruf. Sie gilt als leistungshemmend, “unmännlich”, ein Zeichen von Schwäche.
Dabei ist Angst eigentlich ein normales, natürliches und biologisch determiniertes „Urgefühl“, wahrscheinlich geerbt von unseren prähominiden Vorfahren. Die Angst hat eine überlebenswichtige Alarmfunktion, sie bereitet den Körper auf Kampf oder Flucht vor, schärft die Sinne und ermöglicht unserem Körper schneller zu reagieren als der Verstand. Gesteuert wird die Angst durch das sogenannte autonome Nervensystem. Der aktivierende Teil- der Sympatikus- erhöht die nach außen gerichtete Handlungsbereitschaft: Diese spiegelt sich eben in typischen Symptomen einer Panikattacke – der Erhöhung von Herzschlag und Blutdruck durch Engstellung spezifischer Blutgefäße, Anspannung der Muskulatur, Erweiterung der Bronchien, Bereitstellung von Energie und Ausschüttung von Zucker. Sein Gegenspieler, der Parasympathikus sorgt wiederrum für Ruhe, Erholung und Entspannung. Die Schaltstelle der Angst im Gehirn ist der so genannte Mandelkern, die Amygdala, eine evolutionsgeschichtlich sehr alte Struktur. Sie ist ein Teil des limbischen Systems und an der Entstehung emotionaler Reaktionen maßgeblich beteiligt. Der Mandelkern ist in der Lage den Organismus innerhalb von Sekunden in Hocherregung zu versetzen, bevor eine bewusste Analyse der Situation stattgefunden hat.
Die Grenze zwischen normaler und pathologischer Angst ist unscharf. Forscher nehmen an, dass die Angst eine gewisse genetische Komponente hat. Angeborene Ängstlichkeit sei ein ziemlich stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Biologie ist aber noch lange kein Schicksal. Dieses ängstliche Temperament, bereits im jungen Alter zu beobachten (man spricht dabei von so genannten high reactive babies) ist und bleibt nur eine Prädisposition, also „nur“ ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung einer Angst-bzw. Panikstörung. Was braucht es aber noch zusätzlich dazu? Da kommen, wie so oft, die Interpretationen, Bewertungen und fehlangepasste Annahmen mit ins Spiel. Betroffene Menschen reagieren auf beschriebene körperliche Reaktionen und Empfindungen besonders sensibel, „katastrophisieren“ und interpretieren sie als Anzeichen eines drohenden Anfalls. Dadurch verstärken sie zusätzlich die körperliche Symptomatik.
Als auslösende Ereignisse werden vor allem traumatische Erfahrungen, Anpassungsprozesse an sich verändernde Umstände in der Gesellschaft (biographische Brüche, Arbeitsplatzverlust), familiäre Belastungen und Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen (Trennungen, Konflikte)genannt. Angstzustände können auch durch Substanzmissbrauch hervorgerufen werden und sich verselbstständigen. Zusätzlich ist es möglich Angstreaktionen durch Modelllernen (aufgrund von Beobachtungen und Nachahmungen wichtiger Bezugspersonen z.B.) zu erwerben. Eine Panikstörung kann oft den eigentlichen inneren Konflikt verschleiern, also auch eine gewisse Funktion haben.
Eine Panikattacke kommt dadurch zustande, dass man sich innerlich in einen „Teufelskreis“ der Angst bugsiert. Dieser Teufelskreis hat einen Rückkoppelungscharakter. Auslöser sind dabei meistens oben beschriebene physiologische Veränderungen (Herzrasen, Schwindel etc.) und psychologische (Gedankenrasen, Konzentrationsschwierigkeiten). Wenn die Person nun diese Merkmale wahrnimmt und mit unmittelbarer Gefahr assoziiert erfolgt eine Angstreaktion, die die bereits vorhandenen körperlichen und psychischen Symptome verstärkt. Weitere Veränderungen werden ausgelöst und ängstigen die Person zusätzlich. Durch die massive Angststeigerung kommt es zu einer Symptomeskalation (z.B. Hyperventilation). Diese Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung, Assoziation mit Gefahr und Angstreaktion ist für den Aufschaukelungsprozess und somit auch für die Panikattacke verantwortlich. Je öfters so etwas passiert desto verunsicherter wird man. Es kommt zum Vermeidungsverhalten, die Angst wird dadurch aufrechterhalten.
Der Teufelskreis der Angst (aus Margraf, Panik: Angstanfälle und ihre Behandlung, Springer-Verlag, 2. Auflage)
Hier setzt die Psychotherapie an, denn diese Bewertungsprozesse können im Laufe der Zeit aufgespürt und verändert werden. Vor allem geht es darum Wissen zu vermitteln und dem Patienten die Strategien zum richtigen Umgang mit der Angst zu vermitteln. Die Psychoedukation (Schulung von Patienten) bringt schon unheimlich viel. Die Erkenntnis dass die Angst nicht lebensgefährlich sein kann (zum Tode verurteilte wären froh wenn man vor der Angst sterben könnte) und man nicht dabei verrückt werden kann (die verminderte Denkfähigkeit ist kein Anzeichen dafür, sondern ein wichtiger Teil der Kampf-Flucht Reaktion) sind bereits ein großer Schritt. Danach sollte man gemeinsam ein individuelles Störungs-und Erklärungsmodell erarbeiten (verursachende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren).
Ein wichtiger aufrechterhaltender Faktor ist die individuelle Erwartung dass die Angst im Rahmen einer Attacke ins unendliche ansteigt, bis sie nicht mehr zu ertragen ist bzw. man in Ohnmacht fällt, verrückt wird, einen Herzinfarkt erleidet oder die Kontrolle verliert (siehe Abbildung). Die Vermeidung bzw. die Flucht, bei der die Angst schnell und effektiv wegfällt wird dabei „negativ“ verstärkt.
Eine der wirksamsten therapeutischen Strategien ist die so genannte Exposition, wobei der Patient nach sorgfältiger Vorbereitung öfters mit furchtauslösenden Situationen konfrontiert wird, sowohl in der Vorstellung als auch in der konkreten Situation. Dabei kommt es zur einer Habituation und einer Löschung der gelernten Furchtnetzwerke. Patienten machen die Erfahrung dass die Angst auftaucht und sehr unangenehm sein kann, nach einiger Zeit aber erträglicher wird und wellenförmig abnimmt.
Gerade bei der Panikstörung haben sich diverse Symptomprovokationen (Hyperventillieren, Drehstuhl für das Schwindelgefühl, Kniebeugen für den erhöhten Herzschlag) auch als erfolgreich erwiesen. Dabei kann man merken dass es Übereinstimmungen zwischen körperlichen Empfindungen, die künstlich ausgelöst werden, und Empfindungen eines „spontanen“ Panikanfalls gibt. Unterschiede liegen vor allem in den persönlichen Bewertungen (gefährlich, unerträglich).
Im Sinne einer weiteren, umfassenden Angstbewältigung ist es ratsam auch gut wirksame, kurzfristig wirkende Entspannungsverfahren wie Muskelentspannung nach Jacobson oder Zwerchfell- bzw. Bauchatmung zu erlernen. Langfristig ist es ebenfalls wichtig abzuklären ob das Symptom der Angst einen sogenannten “sekundären oder tertiären Krankheitsgewinn” beinhaltet, bzw. einen anderen, wichtigen Problembereich “verschleiert”.
In schweren Fällen ist eine Kombinationstherapie mit Medikamenten das Mittel der Wahl. Im Rahmen einer medikamentösen Therapie werden z.B. sog. SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer), SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) und trizyklische Antidepressiva eingesetzt und in manchen Fällen auch Benzodiazepine (hier sollte man wegen dem relativ hohen Abhängigkeitspotential aufpassen). Die SSRI wirken speziell auf den Botenstoff Serotonin und blockieren die Serotonin-Rezeptoren der Nervenzellen im Gehirn. Dadurch verbleibt der Botenstoff länger im Synapsenspalt und seine Wirksamkeit wird erhöht. Damit wirken diese Medikamente, die auch zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden, angstlösend und stimmungsaufhellend.
Festhalten kann man dass die Panikstörung mit psychotherapeutischen Methoden sehr gut behandelbar ist. 75% der Patienten, die psychotherapeutisch behandelt werden, gelten danach als geheilt. Die Prognose verschlechtert sich allerdings je länger eine Panikstörung nicht behandelt wird. Deshalb ist es besonders wichtig dass man sich rechtzeitig helfen und fachliche Unterstützung zukommen lässt. Unbehandelte Panikattacken bilden sich selten spontan zurück und bergen ein großes Risiko zusätzlich an einer Depression oder einer Sucht im Sinne von Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit zu erkranken.
Buchempfehlungen zum Thema :
Wittchen, H.-U., Bullinger-Naber, M. & Dorfmüller, M. (1995). Hexal-Ratgeber Angst: Angsterkrankungen, Behandlungsmöglichkeiten. Karger: Berlin.
Schmidt-Traub, S. (2008). Angst bewältigen: Selbsthilfe bei Panik und Agoraphobie. Berlin: Springer.
Heinrichs, N. (2007). Ratgeber Panikstörung und Agoraphobie: Informationen für Betroffene und Angehörige. Göttingen: Hogrefe.
Weitere Selbsthilfeliteratur : http://www.panikattacken.at/angst-literatur/litera.htm