Männliche „Borderliner” – Mythos oder vernachlässigte Patientengruppe?

Obwohl bei weitem nicht so bekannt wie Schizophrenie oder Bipolare Störung (manisch-depressive Krankheit), ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) häufiger und betrifft ca. zwei Prozent der Erwachsenen. Es handelt sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung, die sich durch starkes impulsives Handeln ohne Rücksicht auf Konsequenzen, schnell und oft wechselnde, kaum vorhersehbare Stimmungsschwankungen, Unfähigkeit zur Vorausplanung, Reizbarkeit und Wutausbrüche äußert. Diese Persönlichkeitsstörung wird, wie fast alle Persönlichkeitsstörungen, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich deutlich. Die meisten PatientInnen kommen auch wegen interpersonaler Probleme in die Therapie.

Während der amerikanische diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen  (DSM-IV bzw. der neue DSM V) von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Diagnosenr. 301.83) spricht, benennt der ICD-10  (internationales Diagnoseklassifikationssystem der WHO)  die “emotional instabile Persönlichkeitsstörung” (F60.3), von der der Borderline-Typus (F60.31) eine „Unterform“ darstellt (der so genannte impulsive Typus, bei Männern häufiger diagnostiziert, stellt die zweite Unterform dar).

Die Bezeichnung „Borderline“ stammt aus Zeiten, als man dachte, es würde sich bei der BPS um einen sogenannten Grenzfall (engl. borderline) zwischen einer Psychose und einer Neurose handeln. Menschen mit BPS leiden jedoch an ihren starken, oft in ihrer Stärke nicht zu reduzierenden Reaktionen auf äußere Einflüsse und innere Auslösereize (wie Gefühle und Erinnerungen).

BPS galt lange als eine typisch weibliche psychische Erkrankung. Männliche Borderline-Patienten waren und sind nach wie vor eine stark vernachlässigte Patientengruppe. Die Frage ist warum?

Die Studienlage dazu ist nicht eindeutig und kaum repräsentativ. Dafür gibt es aber eine Erklärung: in klinischer Behandlung (Studien werden bei klinischen Stichproben gewonnen) sind Frauen mit fast ¾ der Betroffenen deutlich in der Überzahl. Die Ursachen dafür sind mittlerweile nachvollziehbar.

Borderline-Männer fallen, bevor sie psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt werden, überdurchschnittlich oft juristisch auf, kommen häufig mit dem Gesetz in Konflikt oder landen im Gefängnis. Sie begeben sich daher viel seltener in Behandlung. Dazu kommt auch die Tatsache dass die Abbruchrate von wenigen begonnenen Therapien im Vergleich mit betroffenen Frauen auch wesentlich höher ist. Dafür sind nicht selten toxische und überlieferte Männlichkeitsbilder und gesellschaftliche Tabus verantwortlich, die es Betroffenen erschweren sich eine “Schwäche” einzugestehen oder rechtzeitig Hilfe zu suchen.

Wie bei Frauen sind auch bei Männern die Ursachen für das Borderline-Syndrom vielfältig und setzen sich aus dem Zusammenwirken sozialer Faktoren – wie frühe Traumatisierung und Vernachlässigung sowie neurophysiologischen Faktoren – zusammen. Borderline-Patientinnen wurden in ihrer Kindheit und Jugend zu einem großen Teil sexuell oder physisch missbraucht und emotional stark vernachlässigt. Sie wuchsen in einer sogenannten invalidierenden Umgebung auf, die von einem Nicht- Anerkennen der Gefühle des Kindes und widersprüchlichem, inkonsequentem und wechselhaftem Erziehungsverhalten geprägt war. Diese Häufungen sind auch bei männlichen Patienten zu finden. Es wird relativ oft übersehen, dass auch Jungen Opfer von massiver physischer und psychischer Gewalt werden.

Die für Bordeline-Störungen typischen Spannungszustände bauen Männer häufig durch die Einnahme von illegalen Drogen und/oder Alkohol ab, weshalb bislang häufig in der klinischen Behandlung dieser Patienten die Suchtproblematik im Vordergrund stand. Viele männliche Borderline Patienten findet man zuerst in Entzugskliniken.

PatientInnen gehen grundsätzlich mit ihren Störungen sehr individuell um und daher sollte klar sein: es gibt DEN typisch männlichen bzw. DIE typisch weibliche “Borderlinerin” nicht. Erschwerend wirkt dass die BPS ganz selten alleine auftaucht, sondern meistens in einem „Paket“ mit vielen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen), wie zB. andere Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder Bipolare Störungen.

Es gibt jedoch Tendenzen die geschlechtsspezifisch häufiger auftreten. Hier sind sie nochmal zusammengefasst:

  • Männliche Borderliner neigen eher zu Aggression, leben ihre Wutausbrüche deutlicher aus und neigen häufiger zum Hochrisikoverhalten.
  • Männliche Borderliner zeigen eine deutlich höhere Impulsivität.
  • Selbstverletzung kommt bei beiden etwa gleichhäufig vor, doch männliche Borderliner achten mehr darauf ihre Verletzungen zu verbergen, während weibliche Betroffene sich häufig sichtbar(er) verletzen.
  • Sehr deutlich werden die Unterschiede bei dem Abwehrmechanismus Reaktionsbildung: Männer können mit Wut deutlich besser umgehen und wandeln Trauer und Ohnmacht häufig in Wut um, während Frauen sich häufiger in die Trauer flüchten und sich Wut nicht zugestehen.
  • Weibliche Betroffene haben häufiger Probleme mit ihrem Körper, Sexualität und Nähe, meist aufgrund sexueller Übergriffe in der Vergangenheit.
  • Männliche Borderliner neigen häufiger dazu sich gegen Autoritäten aufzulehnen.
  • Weibliche Borderliner weisen oft eine deutlich höhere Symptomausprägung auf.
  • Weibliche Borderliner zeigen wesentlich häufiger dissoziative Symptome.
  • Unterschiede gibt es auch bei Komorbiditäten: Borderlinerinnen leiden häufig zusätzlich an affektiven Störungen, wie Depressionen, erkranken häufiger an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und neigen wesentlich häufiger dazu Essstörungen zu entwickeln. Männliche Borderliner haben eine wahrnehmbar höhere Komorbiditätsrate mit der Narzisstischen und Antisozialen Persönlichkeitsstörung und greifen häufiger auf Substanzmissbrauch zurück.

Bei den männlichen Borderline-Patienten wird der bisherige Therapieansatz durch eine spezifische Suchtprävention und -behandlung als auch durch eine Emotionsmanagementtherapie (mit dem Schwerpunkt Ärger-und Aggressionsbewältigung) ergänzt. Die emotionale Belastbarkeit sollte durch eine verbesserte Selbstwahrnehmung erhöht und ein anderer Umgang mit Spannungszuständen gelernt werden.

Schematherapie hat sich bei dieser Patientengruppe ebenfalls als erfolgsversprechend erwiesen. Neben mehreren guten Ergebnissen bei PatientInnen mit einer Borderline- Störung wurde Schematherapie zusätzlich nach einer klinischen, multizentrischen Studie in den Niederlanden als evidenzbasierte Behandlung für forensische PatientInnenen anerkannt.

Quellen/weiterführende Links:

  • Selbsthilfeliteratur:

http://www.borderlinetrialog.de/borderline/literaturempfehlungen/index.php

  • Selbsthilfeplattformen und -portale:

www.borderline-plattform.de

www.borderline.at

www.grenzwandler.org

  • Fachliteratur:

Artz Arnoud, van Genderen, Hannie: Schematherapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörung. Beltz 2010

Class-Hinrich Lammers, Maren Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie: Grundlagen, Strategien und Techniken; Stuttgart: Schattauer Verlag 2011

Sendera, Alice, Sendera, Martina: Borderline- die andere Art zu fühlen. Beziehungen verstehen und leben. Springer 2010

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